Monatsspruch für Juli 2004

Jesus Christus spricht: Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.

(Markusevangelium, Kapitel 3, Vers 35)


Zu verstehen ist die Handlungsweise Jesu ja beinahe nicht. Wie kann ihm das passieren? Dass er so mit seinen Nächsten, mit seiner Mutter, seinen Brüdern, seinen Schwestern umgeht, das hätte ich nicht von ihm erwartet. Oder ist er vielleicht auch nur so einer, der schön von Liebe und Friede unter den Menschen redet, sich selbst aber nicht entsprechend verhält? Was ist geschehen? Jesus ist wieder mit seinen Jüngern zusammen, und eine große Volksmenge schart sich um ihn. Menschen, die hören wollen, was er zu sagen hat, die von ihm Hilfe erhoffen oder die vielleicht einfach nur neugierig sind. Auch seine Mutter und seine Geschwister kommen dorthin und fragen nach ihm. Jesus aber weist sie schroff ab. „Wer sind das, meine Mutter, meine Schwestern, meine Brüder?" sagt er nur und zeigt auf die, die dort im Kreis sitzen: „Siehe, das ist meine Familie! Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter!" Dass Jesus etwas aus der Art geschlagen ist, das hat seine Familie schon längst begriffen. Dass er weggegangen ist von zu Hause und seinen Vater mit seiner Tischlerwerkstatt sitzen ließ, dass er ganz anders ist als man das von Josephs Sohn erwartet hätte, daran haben sie sich allmählich gewöhnt. Aber dass er so grob mit ihnen umgeht und sie so abkanzelt, das haben sie nicht verdient. Ist Blut nicht doch immer noch dicker als Wasser? Halten Schwestern und Brüder nicht letztendlich doch fest zusammen, auch wenn sie noch so zerstritten waren? Leicht haben die Seinen das wahrlich nicht mit Jesus! Aber auch er hat es nicht leicht mit seiner Familie. Er weiß, wie sein Weg aussehen wird. Er weiß auch, dass sie das nicht verstehen können. Und wir haben das aus anderen Bibelgeschichten erfahren: Von seinem Weg lässt Jesus sich nicht abbringen, weder von seiner Familie noch von seinen besten Freunden: Als Petrus meint, er müsse ihm seinen schweren Weg ausreden, fährt Jesus ihn an: Weg mit dir, du Satan. Du bist mir ein Ärgernis. Du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist (Mt. 16, 21-23). Jesus geht seinen Weg, einen Weg, der anders ist als seine Familie es gerne gesehen und man es zu seiner Zeit vielleicht auch vom Erstgeborenen erwartet hätte. Das zeigt sich auch im Spruch für den Monat Juli. Aber hier geht es noch um viel mehr. In der dazugehörigen Geschichte geschieht eigentlich etwas Wunderbares, auch wenn es uns eher ungewöhnlich erscheint: Je unruhiger es in unserer Welt zugeht, desto mehr Menschen ziehen sich in ihr Privatleben zurück. Sie wollen am liebsten nichts mehr hören und sehen von all dem, was um sie herum geschieht. Wichtig ist nur noch, dass es Ihnen und ihren nächsten Angehörigen gut geht. Auch um Jesus herum sind viele Menschen mit Sorgen und Nöten versammelt, Menschen, die es schwer haben und Leid ertragen müssen. Da könnte man es sich gut vorstellen, dass auch Jesus irgendwann sagt: „Nun lasst mich mal eben ein Weilchen in Ruhe, ich möchte erst einmal mit meiner Mutter eine Tasse Tee trinken und mich mit meinen Geschwistern unterhalten." Aber nein: Jesus tut genau das Gegenteil. Er schließt nicht den Kreis, er macht ihn weit offen. Zu seiner Familie gehören für ihn alle, die mit ihm zusammen Gott als den sehen, der für uns Menschen Mutter und Vater zugleich ist. Als ich einmal mit einer Seniorengruppe in einem Freizeitheim war, fand dort zur gleichen Zeit eine Art Familientreffen statt. Einer der Männer erläuterte mir, was es damit auf sich hatte: „Bei seiner Trauerfeier ließ mein Vater einen Brief verlesen", erzählte er. „Darin hat er seine Kinder und Kindeskinder aufgefordert, sie sollten zusammenhalten, sich gegenseitig helfen und den Kontakt nicht abreißen lassen. So kommen wir hier nun alle zwei Jahre zusammen, auch wenn wir noch so beschäftigt sind. Und glauben sie mir: Inzwischen will keiner mehr auf diese Treffen verzichten." So ähnlich muss Jesus sich das auch vorgestellt haben, als er damals seine „Familie" vergrößert und die Grenzen erweitert hat: Ihr alle, die ihr euch als meine Nachfolger betrachtet, lebt so wie in einer großen Familie: trefft euch regelmäßig, haltet Kontakt, unterstützt euch. In einer großen Familie zusammenzuleben ist ja manchmal nicht ganz einfach. Eltern, Schwestern und Brüder kann man sich ja nicht aussuchen. Auch zur Familie Gottes gehören ganz verschiedene Menschen. Da passt uns vielleicht manches ganz und gar nicht. Da kommt man vielleicht mit manchen überhaupt nicht aus. Und auch unsere Familientreffen am Sonntagmorgen werden oft genug nicht so richtig ernst genommen und nicht immer als besonders familiär erlebt. Alle Menschen, die versuchen, nach dem Willen Gottes zu leben, als große Familie - das klingt verheißungsvoll. Es ist uns auch zugesagt, aber Realität ist es darum noch lange nicht. Aber gesehen und erlebt habe ich davon schon oft etwas: Vorletzte Woche zum Beispiel, als wir als ökumenische plattdeutsche Gruppe auf dem Katholikentag in Ulm zusammen gefeiert, diskutiert und gearbeitet haben. Oder in unseren Partnerschaften mit unseren Freunden aus Südafrika: Wir leben in ganz unterschiedlichen Welten und wissen doch: wir gehören zusammen. Ich erlebe es immer wieder: Ich bin nicht allein mit meinem Glauben und mit meiner Sehnsucht nach einer anderen Welt. Es ist einfach schön, zu einer so großen Familie zu gehören, denke ich oft, denn jeder von uns ist gelegentlich hilflos und angewiesen wie ein kleines Kind, jeder sucht hin und wieder nach sich selbst wie ein Teenie, jeder kann andern Wärme und Liebe geben wie ein Vater oder eine Mutter, jeder kann wichtige Erfahrungen weitergeben wie eine Großmutter oder ein Großvater, jeder kann anderen zum Bruder oder zur Schwester werden. Eine Welt, in der das immer wieder möglich ist, begegnet einem freundlich und hell. Die Geschichte von dem jüdischen Rabbi ist ja ziemlich bekannt: Er fragte einmal: „Wann weicht die Nacht dem Tag? Woran erkennt man das?" Einer meinte: „Wenn man den ersten Lichtschimmer am Himmel sieht?" Ein anderer: „Wenn man einen Busch von einem Menschen unterschieden kann?" „Nein," sagte der Rabbi, „die Nacht weicht dem Tag, wenn ein Mensch im Gesicht des andern den Bruder und die Schwester erkennt."

Pastorin Anita Christians-Albrecht
Anita Christians-Albrecht
Burgdorf
Beauftragte für plattdeutsche Verkündigung

Homepage: www.plattduetsch-in-de-kark.de

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